eine Kolumne von Filomena Engels
«Das muss so sein, du gewöhnst dich schon daran»
Mit der Diagnose «Schwerhörigkeit» tritt man in eine zuvor unbekannte Welt. Eine, die funktionstüchtigen Menschen ohne Behinderung gut verborgen bleibt und in die man als aussenstehende Person nie vollkommen Einblick hat, so sehr man sich auch zu verstehen bemüht.
Doch ist man einmal Teil dieser komplexen, vielschichtigen Welt, kommt man nicht mehr wieder heraus. Man wird anders wahrgenommen und behandelt, muss mit Erwartungshaltungen und Vorurteilen umgehen, sich konstant wehren und beweisen, um ernst genommen zu werden.
Dieser Artikel zeigt, wie dies im medizinischen Bereich aussieht und fokussiert sich damit auf die medizinische Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, auch Ableismus genannt. Ableismus zeigt sich, wenn Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Behinderung ungleich behandelt werden oder Vorannahmen bewältigen müssen, die sie unter anderem auf ihre Behinderung reduziert.

Der erste Schritt nach der Diagnose ist üblicherweise, sich Hörgeräte zu beschaffen und diese bei einer/einem Hörakustiker:in korrekt einstellen zu lassen. Das klingt um einiges einfacher, als es tatsächlich ist. Denn ein nicht eingestelltes Hörgerät lässt sich mit einem Ohrstöpsel im Ohr vergleichen – ein Fremdkörper, der sich im Ohr befindet und die Töne dumpf klingen lässt. Bei einem Ohrstöpsel ist das gut, bei einem Hörgerät weniger. Bei diesen Terminen, bei denen das Hörgerät eingestellt wird, versucht man, diese dumpfen Töne in helle, klare Töne zu verwandeln und somit ein normales, gut hörendes Ohr nachzustellen. Da der/die Hörakustiker:in selbst nicht hören kann, wie das Hörgerät klingt, ist es unheimlich schwierig, dieses Ziel nur durch Rückmeldungen zu erreichen. Beide Parteien benötigen bei solchen Terminen unglaublich viel Geduld und Verständnis. Die schwerhörige Person muss genau hören, wie die Töne klingen und diese anhand von präziser Sprache und klaren Verbildlichungen dem/der Hörakustiker:in beschreiben, damit diese:r die Beschreibungen verstehen und die korrekten Änderungen bei dem Hörgerät vornehmen kann.
Stundenlang gibt die schwerhörige Person folgende Rückmeldungen: „Es fühlt sich an, als halte ich die Hand über dem Ohr. Der Buchstabe «t» ist zu leise und der Buchstabe «k» zu laut. Ich höre keinen Unterschied zwischen den Buchstaben «d» und «b». Der Laut «sch» schmerzt. Meine Stimme klingt nicht wie meine Stimme. Ich höre meine Haare ständig rauschen, da sie das Hörgerät berühren. In kleinen Räumen höre ich ein Echo. Alle Töne klingen kalt und roboterhaft. Es klingt, als hätte ich Wasser im Ohr. Hier höre ich dich gut, aber wenn du drei Meter weiter weg oder hinter mir stehst, höre ich nichts mehr.“ In der Regel benötigt es um die fünf Einstellungstermine, bis das Hörgerät wirklich tragbar ist und diese finden alle sechs Jahre statt, weil das die Lebensdauer eines Hörgeräts ist. Du siehst, wie anstrengend das ist und wie viel Energie und Geduld es benötigt. Ich gehe nie gerne zu diesen Terminen, da sie so viel von mir fordern, dass ich danach aufgrund der Anstrengungen starke Kopfschmerzen habe.
Jetzt stell dir diese Termine, die so schon mühevoll sind, vor, wenn der/die Hörakustiker:in einen schlechten Tag hat, ungeduldig ist oder dich nicht ernst nimmt. Dies ist leider mehrheitlich der Fall, da bei einer unsichtbaren Behinderung auch die Beschwerden unsichtbar für andere sind. Von aussen ist nicht ersichtlich, dass mein Hörgerät falsch eingestellt ist. Um mir helfen zu können, muss man mir glauben und darauf vertrauen, dass ich die Beschwerden so akkurat wie möglich beschreibe – auch wenn ich erst vier Jahre alt bin. Doch etliche Male wurde mir nicht geglaubt, meine Beschwerden verharmlost und der Standardsatz, den ich immer zu hören bekam, war, dass die Einstellung des Hörgeräts halt so sei und ich mich nur daran gewöhnen müsse. Da spielte es keine Rolle, dass ich mit dem schlecht eingestellten Hörgerät weniger hören konnte als ohne Hörgerät.
Hast du bei einem so harten Termin dann noch die Energie und das Selbstvertrauen, um für dich selbst einzustehen und dich vehement zu wehren? Fraglich. Zum Glück finde ich in solchen Momenten den Mut, darauf zu bestehen, dass ich sehr wohl weiss, was normal sei und was nicht – auch wenn ich nach jedem dieser Termine aus Erschöpfung weine. Leid tun mir vor allem die vielen Senior:innen, die sich über ihr Hörgerät beklagen und nicht ernst genommen werden. Irgendwann geben auch sie nach und lassen ihr Hörgerät ungetragen zuhause herumstehen, weil niemand sich bemüht hat, genau hinzuhören, dass das Hörgerät falsch eingestellt und damit untragbar ist.
Du siehst, dass unsichtbare Behinderungen erfordern, dass den Menschen geglaubt wird – das ist die Grundbasis, damit ihr Leben erträglicher gemacht werden kann. Wenn dies nicht geschieht, kann schwerhörigen Menschen nicht nur die Diagnose verwehrt werden, wie beim letzten Artikel sichtbar wurde, sondern auch ihr Hören trotz Hörgeräten erschwert werden – und dies sind nur die ableistischen Auswirkungen im medizinischen Bereich!
Betrachtet man Menschen mit Behinderung aus der Perspektive des medizinischen Modells, bedeutet dies also: Jede:r muss für sich selbst kämpfen und hoffen, dass man ernst genommen wird und die Beschwerden behoben werden können. Denn gemäss dem medizinischen Modell haben Menschen mit Behinderung eine individuelle, pathologische Deformität, die mit der Medizin behoben werden soll. Die Sichtweise dieses Modells ist in vielerlei Hinsicht problematisch, da sie den Betroffenen das Gefühl vermittelt, dass sie deformiert und damit abnormal oder sogar falsch sind, und zudem diese Abnormalität beseitigt werden soll, damit man wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein kann. Diese Betrachtungsweise ist isolierend und schädigend, da sie Menschen mit Behinderung ablehnt und wieder herrichten will. Leider wissen nur wenige Betroffene, dass sie ihre Behinderung nicht so sehen müssen.
Behinderung kann man auch anders betrachten, wie dies das soziale Modell zeigt. Die Vertreter:innen des sozialen Modells weigern sich, Behinderung als Deformität, die es zu beheben gilt, zu sehen. Aus der Sicht des sozialen Modells ist es die Gesellschaft, die behindert und nicht die Behinderung selbst. Denn wie die Gesellschaft die Menschen mit Behinderung behandelt, ist das eigentliche Problem.Dies wird im nächsten Artikel untersucht, bei dem der Fokus auf der institutionellen Diskriminierung im Bildungssystem liegt.
* Vgl. Fawcett, Barbara: Feminist Perspectives on Disability. Abingdon, 2000. S.19ff.
**Hier lesen: Wie Bitte Kolumne 1
Comments